Podium im VT 25.04.2020: Corona kommt, Grundrechte gehen?
vgl. Artikel 20 des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – außer in Zeiten wie diesen?
Corona – italienisch für: die Krone. Uns unfreiwillig aufgesetzt und über die Nation, nein, die Menschheit gekommen. Und wäre das nicht genug Anlass für Ängste und Ärgernisse, so kommen in den letzten Wochen noch massive Einschränkungen des öffentlichen wie privaten Lebens hinzu. Selbstredend ist vieles hiervon sinnvoll – niemand will eine Überlastung der Gesundheitssysteme, der Ärztinnen und Pfleger, und niemand will Situationen wie in der Lombardei, in der bereits per Triage beschlossen wurde, welche Menschen ein Beatmungsgerät erhalten oder nicht.
Doch hier – hier kommt ein ABER. Ich wünsche mir einen Staat, der mich schützt, keine Frage; mich und all die Menschen, die in ihm wohnen. Doch welche Maßnahmen sind hiermit zu rechtfertigen? Das Absagen von Großveranstaltungen? Vermutlich schon. Das Herunterfahren der Wirtschaft, das viele Menschen ihre Existenzgrundlage, ihren Beruf, ihre Firma verlieren lässt? Vielleicht. Die Schließung von Schulen und Kindergärten, die die Bildungs-Schere weiter auseinandergehen lässt und unter Umständen über die Ermöglichung von weiteren Bildungsgängen, ja Lebenschancen entscheidet? Schwierig. Das Kontaktverbot im persönlichen Bereich? Polizei-Kontrollen im öffentlichen Raum, wer meine Begleitung ist? Strafen dafür, dass zu vielen Menschen bei einer Beerdigung dem Verstorben die letzte Ehre erweisen wollen? Das Verweilverbot in Jena auch für körperlich eingeschränkte Menschen, die sich unterwegs auf einer Bank ausruhen müssen? Die Einschränkung der Religionsfreiheit? Regelrechte Berufsverbote? Die genommene Möglichkeit, der Ehefrau bei der Geburt des gemeinsamen Kindes beizustehen oder die an Krebs erkrankte Oma vor einer Operation im Krankenhaus zu besuchen? Und was ist mit der Aufweichung des Datenschutzes, der von Jens Spahn ins Spiel gebrachten Funkzellenortung, der Auswertung unserer Mobilfunkdaten, dem Location-Tracking? Big Data als Lösung?
Was darf sie, die Politik? Binnen weniger Wochen wurden nun etliche Grundrechte ausgehebelt. Wird das in Zukunft der Maßstab sein, wie man – wie auch immer geartete – komplizierte Situationen in den Griff bekommt? Wird die Einschränkung unserer garantierten Rechte salonfähig?
Das Private ist politisch in diesen Zeiten – und Politik greift tief ein in unser privates Leben, unsere Grundrechte. Das darf sie – in besonderen Ausnahmensituationen. Der Einzelne muss zurückstecken für das übergeordnete Ziel, die Gemeinschaft als solche (halbwegs) gesund zu erhalten und möglichst rasch wieder zum vorherigen Zustand mit all seinen Freiheiten zurückzukehren. Zudem sind Grundrechtseinschränkungen etwas vollkommen Legitimes, auch ohne Corona – das gilt dann, wenn Straftätern ihre Freiheit genommen wird, aber auch, wenn ich mich an die StVO, die nächtlich den Nachbarn zu gönnende Ruhe oder die Bauverordnungen halten muss. Und schließlich wurden all diese Pandemie-Maßnahmen unter Einbezug der Parlamente – und damit demokratisch – beschlossen. Aber das sollte uns nicht aus dem Blick verlieren lassen, dass es trotzdem gilt, wachsam zu sein – aufzupassen auf die Rechte, die zum Teil mühsam errungen wurden. Diskussionswürdige Einschränkungen als solche zu benennen, wehrhaft zu bleiben gegenüber Entschlüssen, die zur Gängelung werden – und diese immer wieder als das zu betiteln, was sie sind: Absolute Ausnahmen in einer absoluten Ausnahme-Situation. Aus der Gesundheitskrise darf keine Grundrechtskrise werden. Und zu Recht wurde mittlerweile höchstrichterlich beschlossen, dass Demonstrationen gegen die Einschränkungen der Grundrechte mitnichten verboten werden dürfen.
Lobend zu erwähnen ist aber, dass wir in Deutschland es in fruchtbarer Verbindung von Wissenschaft, Politik und der Überzeugungskraft der Exekutive (das betrifft die Bundeskanzlerin ganz besonders – sie hat ein umfassendes Lob gar von der New York Times erhalten) geschafft haben, eine erste Welle ohne übertrieben repressive Methoden (Ausgangssperre in anderen Ländern, Blockwarte in China) zu brechen. Und dann kamen sie doch – die Einschränkungen, Beschränkungen, Verbote.
Machen wir uns nichts vor: Die freiheitliche Gesellschaft, wir wie sie bis vor einigen Wochen kannten, wird für eine ganze Weile eingeschränkt bleiben. Sorgen wir alle dafür, dass die uns gesetzlich garantierten Freiheiten nicht in Vergessenheit geraden. Seien wir laut, wenn Einschränkungen über das angemessene Maß hinausgehen. Lasst uns immer und immer wieder kontrollieren, ob die Angemessenheit noch gegeben ist – und fordern wir diese Kontrolle auch bei unseren parlamentarischen Vertretern ein. Diskutieren wir die Anordnungen und hinterfragen wir sie kritisch. Dann wird die Demokratie – die wortwörtliche „Herrschaft des Volkes“ – hoffentlich den längeren Atem haben.
Bleiben Sie gesund – und wachsam.
Sonja Filip